Sie sitzen nicht vor Ihrem Bildschirm. Sie sitzen im klassischen Konzert. 130 Musiker spielen eine Sinfonie. Plötzlich geschieht etwas Unerwartetes. Überlegen Sie kurz: Was könnte das sein?
Vielleicht geht das Licht aus. Vielleicht fallen einige Musiker aus. Vielleicht singt jemand aus dem Publikum lautstark mit. Wie reagiert das Orchester auf diese Veränderung?
Wechseln Sie gedanklich die Szenerie an die Bar eines Jazz-Clubs. Ein paar Musiker spielen einen Jazz-Standard. Plötzlich geschieht etwas Unerwartetes. Licht aus, Musiker fällt aus, jemand singt mit. Was meinen Sie, wie reagiert die Jazz-Combo auf diese Veränderung?
Stellen Sie sich ein klassisches Orchester vor. Einer knipst das Licht aus. Und nun? Stellen Sie sich eine Jazz-Session vor. Einer knipst das Licht aus. So what!
Wir sind umgeben von Unklarheit, Ungewissheit und Unvollständigkeit. Dennoch agieren wir schnell, kreativ und bleiben aktionsorientiert. Wie geht das?
In meinem Beitrag Neun jazzy (!) Tipps für Führungskräfte beschreibe ich, wie Jazzmusiker Improvisation und Intuition auf der Bühne nutzen. Auch in der Führungspraxis lohnt es sich diese Fertigkeiten zu trainieren. Allein wer vorbereitet ist, kann hoch professionell spontan handeln. Komplexe Informationen aufnehmen und im Moment reagieren – intuitive Improvisation für das Steuern im komplexen (scheinbaren) Chaos.
Im Verlauf der letzten Monate habe ich vier weitere Gemeinsamkeiten eines guten Jazzmusikers und einer guten Führungskraft formuliert. Sie sind grundlegender Natur und finden sich auch in anderen (nicht nur künstlerischen) Professionen. Ich bleibe selbstverständlich bei meiner Jazz-Metapher, denn so kann ich die Tipps am besten illustrieren.
Anknüpfend an die vorherigen neun Tipps also meine jazzy Tipps 10 bis 13 für Führungskräfte:
10. Verständnis und Vision entwickeln.
11. Die Beziehungen gestalten.
12. Bewusst sein.
13. Vorbilder und Begleiter finden.
10. Verständnis und Vision entwickeln.
Der gute Jazzmusiker entwickelt eine Idee von seinem Sound, seinem musikalischen Ausdruck und seinem Ideal des Zusammenspiels. Dafür lässt er sich von anderen Musikern inspirieren. Oder er nimmt sich bewusst die kreative Auszeit, um sich den äußeren Einflüssen zu entziehen. Dadurch kommt er in Verbindung mit sich selbst und erlangt den Zugang zur eigenen inneren Stimme.
Der Wert besteht darin, die persönliche Vision der unverkennbaren Klangfarbe aus dem Inneren heraus entwickelt zu haben und diese ins Außen zu geben. Er entwickelt sein Repertoire und umgibt sich mit passenden Musikern und Zuhörern, um sich gemeinsam seiner Klangvorstellung und seinem Musikverständnis zu nähern und es weiterzuentwickeln.
Als Führungskraft kennen wir den Begriff der Vision aus dem Dreiklang Vision, Mission, Strategie. Darüber hinaus findet die gute Führungskraft ihre eigene Note: Dazu gehören die klare eigene Vorstellung der gemeinsamen Zusammenarbeit und das persönliche Führungsverständnis. Sie lebt und gestaltet ihre Vorstellung von Arbeitskultur gemeinsam mit ihrem Team und Mitarbeitern.
11. Die Beziehungen gestalten.
Es ist immer anders. Selbst wenn der Jazzmusiker immer die gleichen Phrasen und Motive spielte. Denn alles, was er spielt, tritt in Interaktion mit seinen Mitmusikern und verändert sich dadurch. Gute Jazzmusiker entwickeln zügig ein emphatisches Gefühl füreinander und gelangen in den gemeinsamen Groove.
Der Jazzmusiker passt sich seinen Mitmusiker an – wie stark er jemanden herausfordert, wie weit er jemanden unterstützt, zum Beispiel durch klare, eindeutige und präzise Spielweise. Die gegenseitige Wertschätzung und das Begegnen auf Augenhöhe werden spürbar und hörbar.
Der gute Jazzmusiker gestaltet die Beziehung zum Publikum. Er erhält unmittelbare Reaktion durch Klatschen und Zurufe und entwickelt ein Gefühl, was sich das Publikum wünscht. Drei klassische Swing-Stücke könnten ermüden. Eine Ballade, ein Up-tempo-Song oder ein Bossa sorgt für notwendige Abwechslung und Aufmerksamkeit.
Die gute Führungskraft gestaltet ebenfalls die Beziehungen zu ihren Mitgliedern des Teams. Sie bringt in Erfahrung, was die einzelnen Mitarbeiter wollen und können, was ihre Erfahrungshintergründe und Entwicklunsgziele sind.
Sie agiert in unterschiedlichen Rollen mit unterschiedlichen Verantwortlichkeiten. Das Publikum besteht hier zum Beispiel aus Interessenvertretern innerhalb des Unternehmens und den Kunden. Die gute Führungskraft gestaltet wie ein guter Jazzmusiker die Beziehungen, indem sie Perspektiven wechselt, Bedürfnisse erkennt, Vertrauen schafft und das Arbeiten auf Augenhöhe ermöglicht.
12. Bewusst sein.
Auf der Bühne besteht Ungewissheit: Wer ist da? Was geschieht? Wie ist die Stimmung – der Musiker und des Publikums? Es ist viel Dynamik und Bewegung, es kommen neue Musiker hinzu, jemand geht – es entwickelt sich eine neue Besetzung.
Um mit dieser Komplexität und Unvorhersehbarkeit umzugehen und Koordination zu ermöglichen, ist der Jazzmusiker äußerst aufmerksam. Er besitzt die Fähigkeit, sich auf das einzulassen, was ist und den anderen anzunehmen, wie er ist. Er ist aufmerksam der Musik gegenüber, spürt den Groove, den Fluss und geht mit ihm. Er ist bewusst im Hier und Jetzt.
Auch die gute Führungskraft ist ausgesprochen aufmerksam. Sie bewegt sich durch die Organisation, hört zu. Sie spürt Offenheit für Ideen und Impulse. Sie achtet auf die subtilen Signale im Außen und im Innen. Sie macht sich ihre inneren Resonanzen bewusst und hört auf Dissonanzen: Wo gibt es Ungereimtheiten, wo Konflikte? In sich als Person, in den anderen Menschen und in der Organisation.
13. Vorbilder und Begleiter finden.
Der gute Jazzmusiker beschäftigt sich mit Biografien und Aufnahmen seiner Vorbilder. Er benennt, welche musikalischen Größen ihn beeindrucken und seinen Stil prägen. Er differenziert, was ihn bei wem wieso besonders – oder eben nicht – anspricht. Bei ihm stapeln sich Platten oder mp3-Dateien von historischen und modernen Aufnahmen.
Es gibt Autodidakten, die durch Ausprobieren und ihre Mitmusiker gelernt haben – das waren ihre Vorbilder, Begleiter oder Unterstützer. Die meisten Jazzmusiker hatten den einen oder anderen Lehrer, bei dem sie ihr Handwerkszeug gelernt und über ihre Fortschritte reflektiert haben. Häufig nehmen die Musiker bei ihren Vorbildern einzelne Unterrichtsstunden oder besuchen Workshops.
Auch die gute Führungskraft beschäftigt sich mit den Lebensgeschichten und Werdegängen inspirierender Führungspersönlichkeiten. Sie schaut sich um, wessen Wertvorstellungen, Verhalten oder Visionen für sie vorbildlich sind – innerhalb oder außerhalb der eigenen Branche.
Zudem hat die gute Führungskraft jemanden, mit dem sie ihre individuelle Situation reflektiert, Impulse für das Tagesgeschäft erhält und an den eigenen Entwicklungszielen arbeitet. Dies zum Beispiel im Management-Zirkel, in der kollegialen Beratung oder im Gruppen- und Einzelcoaching.
Was gefällt Ihnen an der Jazz-Metapher? Welche weiteren Ähnlichkeiten fallen Ihnen ein?
PS Wenn Sie es noch nicht kennen – hören Sie jetzt das Gespräch:
Interview mit Christine Paulus: Jazz als Metapher für die Führung von morgen.
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